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© Theresa Clayton 2015

 

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HAARFARBE UND HÖFLICHKEIT

 

Okay, meine Haare sind ziemlich grau.

Die wurden schon grau zu einem Zeitpunkt, der mich denken ließ: „Das müsste jetzt aber wirklich auch noch nicht sein!“.

Auch der Kopf meiner Mutter wurde schon relativ früh von grauen Haaren verziert.

Stand sie im Bad und rief panisch nach mir, wußte ich, auf ihrem Kopf wuchs unerlaubt ein graues Haar, das musste dringend weg.

 

Als es bei mir damit los ging, habe ich die grauen unter einer anderen Farbe versteckt.

Allerdings schult sich mit der Zeit der prüfende Blick auf anderleuts Köpfe, so dass man ziemlich schnell erkennt, wessen Haare gefärbt sind und was die Farbe verstecken soll.

Kann ohnehin jeder sehen, dass graues Haar umgefärbt wurde, braucht man eigentlich gar nicht erst damit anzufangen“, dachte ich mir und entschloß mich, ab sofort graue Haare schön zu finden.

Seither habe ich viel weniger Streß mit meinem Schopf.

 

Der Streß kommt jetzt aus einer ganz anderen Ecke.

Weil ich mir nämlich einbilde, dass ich überhaupt noch nicht tatterig aussehe, kann eigentlich nur mein uncolorierter Kopf schuld daran gewesen sein, dass mich der ganz junge Mann (er musste sich noch nicht rasieren, glaub‘ ich, nur damit Sie wissen, was ich mir unter „ganz jung“ vorstelle), der auf dem Recyclinghof am Weißglascontainer neben mir stand, fragte: „Darf ich Ihnen Ihren Korb zum nächsten Container tragen?

Ich bin froh, dass man noch nicht nach Wein-, Öl- oder Gemüsesorten, die sich einst in den Flaschen und Gläsern befanden, sortieren muss. Es reicht schon, daß man seine zu entsorgenden Flaschen nach Farben zu sortieren hat. Und die wollte mir der junge Mann von Container zu Container schleppen?

 

Ich habe das Angebot des jungen Mannes mit meiner Nachbarin diskutiert.

Sie meinte, möglicherweise handelte es sich bei ihm um eine dieser selten gewordenen Spezies, die früher als „höflich und gut erzogen“ galten. Die einen freundlich gegrüßt haben, älteren Menschen ihren Platz anboten, nachts zu anständigen Zeiten in ihren Betten lagen und nicht statt dessen die Gegend unsicher gemacht hätten und dergleichen.

Von denen hätte es damals eine ganze Menge mehr gegeben als heute.

Inzwischen seien sie nahezu ausgestorben und würden ersetzt durch unerzogene, lümmelige und laute Wändebeschmierer, Blumenkübelumwerfer, Krakehler, Parkhausbesudler und neuerdings auch Komasäufer, und grüßen oder mal Platz machen würden sie sowieso überhaupt nicht mehr.

 

Mein Gesichtsausdruck hat sie wohl verleitet, das Gesagte zu bekräftigen mit einem „Wenn das nicht stimmen würde, wäre das in den Medien schließlich nicht ein nahezu tägliches Thema. Über nette junge Menschen hört und liest man nichts, und gesehen habe ich auch schon lange keine, also gibt es die wahrscheinlich gar nicht mehr!“.

 

Wenn ich das gewußt hätte, ich hätte mir weder um meine grauen Haare noch um meinen restlichen Zustand irgendwelche Gedanken gemacht.

Ich hätte dieses seltene Exemplar vom Recyclinghof mit nach Hause genommen.

Und in die Vitrine gestellt.